Sonja Witte: Die postnazistische Allianz der Generationen im deutschen Kollektiv

Am 27. Januar 2009 hielt Sonja Witte im Audimax der Alice-Salomon-Fachhochschule einen Vortrag zum Verhältnis der Generationen und Geschlechter in der deutschen Auffassung eigener Geschichtsaufarbeitung seit 1945, die im allgemeinen Kanon in die Etappen des Schweigens, dessen Bruch und der Integration des Vergangenen geteilt wird. Dabei referiert sie die Thesen aus dem Band "Deutschlandwunder. Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur" der Gruppe Kittkritik zur "Kritik der (...) Ideologie deutscher Vergangenheitsbewältigung in der Kulturindustrie", nach denen der herrschende Diskurs eine intergenerative Versöhnung impliziert. Anhand von beispielhaften Produkten aus der jüngeren Vergangenheit wird gezeigt wie "Kitsch, in dem die Geschichte verschwindet", zur subjektiven Konstruktion der nationalen Ideologie beiträgt. Die Veranstaltung wurde organisiert vom Antira-/Antifa-Referat des AStA der ASFH und dem Antifaschistischen Bündnis Marzahn-Hellersdorf.

Das Buch kann bei uns gelesen werden, eine Aufnahme des Vortrags könnt Ihr hier anhören und runterladen.

Recycling ist das spätestens seit dem Ökoboom der 80er-Jahre bekannte Verfahren, aus Müll Nutzbares zu gewinnen. Unzulässig erscheint in diesem Zusammenhang die euphemistische Gleichsetzung von Müll und Nationalsozialismus, der Anklang an Verwertbarkeit und nutzenversprechende Umarbeitung der deutschen Verbrechen mag gleichwohl zutreffend sein, betrachtet man rückblickend den 60-jährigen Arbeitsprozess der kulturindustriellen Erinnerungsmaschinerie. Verschwindet die alte Bierflasche im Container, erhält sich von ihr keine sichtbare Spur an der neuen Mineralwasserflasche – ein Unterschied zwischen Recycling- und Kulturindustrie und damit die Grenze der Recyclingmetapher: Ob im Film, Popsong oder Massenspektakel einer Weltmeisterschaft – die Deutschen sind zwar bemüht, die deutschen Verbrechen zu ‚entsorgen’ um ohne Sorgen deutsch sein zu können, doch gerade dadurch bewahrt sich in den kulturindustriellen Produkten die Vergangenheit als Erinnerungsspur (im freudschen Sinne) in vergifteter Form. So erhält sich in diesen Umarbeitungen der Wunsch nach der ‚Entsorgung’ als kollektive Schuldabwehr. Diese einer kritischen Reflexion zu unterziehen ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Es soll keinen weiteren Beitrag zu einer – sei es geschichtswissenschaftlichen, politischen oder psychologischen – ‚Bewältigung der Vergangenheit’ leisten, und tritt der Auffassung von Kultur als Trauerarbeit im Dienste eines erfolgreichen Durcharbeitens bis hin zum Schlussstrich entgegen.Seit 1945 sind Kunst und kulturindustrielle Medien Austragungsort der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Fokussierung auf die deutsche Bevölkerung als Opfer im derzeitigen Boom von Büchern und Filmen, die sich mit dem Alltag im ‚Dritten Reich’ beschäftigen, ist kein neues Phänomen. Aktuell ist aber der Entwurf eines historischen Selbstverständnisses einer nach 1989 neu formulierten nationalen Identität, die Auschwitz in die (Re-)Inszenierungen der deutschen Erinnerungsarbeit integriert. Die Berliner Republik ist zu einer Erzählgemeinschaft geworden, in der jeder ‚Zeitzeuge’ und jede ‚Zeitzeugin’ seinen bzw. ihren Platz hat. Egal ob jüdisches Opfer, sowjetischer Soldat oder deutsche Trümmerfrau: Im deutschen Erinnerungsdiskurs hat sich längst durchgesetzt, dass jede Erfahrung subjektiv und jedes Leid gleichwertig ist.Diese Tendenz korrespondiert mit einer stärkeren Öffnung der Jugend- und Populärkultur hin zu nationalen und historischen Themen. In der Musik, im Computerspiel oder im Hörspiel werden jene Geschichtsbilder mitverhandelt, die auch auf der Kinoleinwand und im Fernsehen zu bewundern sind. Auf der medialen Bühne der nationalen Inszenierung hat die dritte Tätergenerationeinen privilegierten Platz: Die neue Unbefangenheit im Umgang mit der Geschichte, in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der eigenen Großeltern und der Wunsch, bei der Weltmeisterschaft auch einmal unbeschwert ‚schwarz-rot-geil’ sein zu können, machen diese Generation zum Protagonisten eines postnazistischen Nationalgefühls, das in der Kultur entstand, die nach 1945 wesentliche Elemente des nationalsozialistischen Bewusstseins, Strukturen der Entwirklichung, des Antisemitismus und des autoritären Charakters in die demokratische bzw. realsozialistische Nachkriegsgesellschaft überführte.Auszug aus: kittkritik (Hg.): Deutschlandwunder – Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur. Ventil-Verlag, Mainz 2007

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