Selbstjustiz an Zigarettenhändler endet tödlich

Mittwoch, 6. August 2008

Am 6.8.2008 ruft der 35-jährige Tino W. den Polizeinotruf an, stellt sich namentlich vor und denunziert einen Händler unverzollter Zigaretten, der vor einer Kaufhalle in der Marchwitzastraße steht. Er fügt an, dass er „keine Angst vor dem“ habe. Keine fünf Minuten später ruft er erneut dort an: „Regelt ihr das oder muss ich das selbst erledigen?“ und bietet an, den Händler fest zu halten. „Na, dann tun Sie das.“ heißt es auf der anderen Seite. Kurz darauf schubst Tino W. den 20-jährigen Nguyen Tan Dung in ein Gebüsch und fügt ihm eine 12 cm tiefe Stichwunde in die Brust zu, an der er wenige Stunden später verstirbt. Tino W. unternimmt hilflose Rettungsversuche und flüchtet. Bei der Obduktion am Nachmittag werden keine Abwehrverletzungen festgestellt.

Nguyen Tan Dung war vor seiner Ausreise aus Vietnam Arbeit versprochen worden, die er jedoch nicht erhielt. Sein in Vietnam lebender Vater und seine Geschwister waren abhängig vom Geld, das er in Deutschland verdiente.

Bereits auf seiner Flucht bekennt Tino W. sich gegenüber der Polizei zu seiner Tat und erhebt dem Opfer gegenüber Vorwürfe, es hätte ihn angegriffen und er habe in Notwehr gehandelt. Mehrfach ruft er bei der Polizei an bis er in seiner Wohnung festgenommen wird. Dabei ist er offenkundig stark verwirrt. In späteren Vernehmungen unterbreitet er der Polizei das Angebot, sie solle sich bei Problemen mit Vietnamesen an ihn wenden, er sei „UN-Sonderbeauftragter“. Nach Presseberichten hatte er Bekannten gegenüber bereits zu früheren Zeitpunkten angekündigt, selbst etwas gegen vietnamesische Zigarettenhändler zu unternehmen, wenn die Behörden das nicht täten. In einem späteren Gespräch mit einer Gutachterin gibt er an, die „schlechten Zigaretten“, die „die Vietnamesen“ verkaufen, seien verantwortlich für das Asthma einer Freundin. Am Abend vor der tödlichen Messerattacke habe er dem Händler gegenüber bereits einen Platzverweis erteilt.

Wir gehen nicht davon aus, dass beim Täter eine rassistische Einstellung vorliegt. Tino W. hatte vor der Tat Bekannten gegenüber beklagt, mehrfach wegen seiner schwarzen Freundin diskriminiert worden zu sein. Er berichtete auch während seiner Zeit in einem Wohnheim andere Obdachlose vor „ausländischen Jugendlichen“ beschützt zu haben. Offenbar leidet der Täter an einer paranoiden Schizophrenie, die 1995 zum erstem Mal diagnostiziert wurde. Da das Schöffengericht, das die Tötung im frühen Sommer 2009 verhandelte, in seinem Urteil davon ausgeht, dass er zum Tatzeitpunkt eine Psychose hatte, wird der Täter wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung angeordnet.

Dennoch nehmen wir dieses Vorkommnis in diese Chronik auf. Er reiht sich in eine Reihe von Angriffen auf Menschen mit (vermeintlicher) vietnamesischer Herkunft im Jahr 2008 (siehe 16. Februar, 20. Mai, 17. Juli). Verschiedene Momente der Geschehnisse treffen auch auf andere Ereignisse zu, die uns dazu bewegten dieses nicht unerwähnt zu lassen, eine Leerstelle zu hinterlassen:

Nguyen Tan Dungs Situation war eine gesellschaftlich marginale. Zwar entspricht der Lebenswandel des Täters nicht dem Bild vom sauberen Deutschen. Objektiv ist es nun einmal eben so, dass ein Weißer deutscher Staatsangehörigkeit einem Migranten, dem unter anderem das Recht auf eine legale Arbeit verwehrt wird, meint vorgeben zu können was dieser zu tun und lassen habe. In einer Pressemitteilung vom Oktober 2008 feiert die Berliner Polizei die Denunziation dreier illegaler Zigarettenhändler in Marzahn, von denen zwei anschließend der Ausländerbehörde übergeben werden, als Zivilcourage ab. National konnotierte Qualitätsurteile über Waren, in diesem Fall die Zigaretten vietnamesischer Verkäufer, sind gesellschaftlicher Mainstream und gehören einer Kritik eben der Nation und des Wertes unterzogen.

Auffallend war die Dankbarkeit mit der die größere Öffentlichkeit die Spekulationen über den psychischen Zustand des Täters aufgenommen hat und ein mögliches rassistisches Tatmotiv im direkten Anschluss an den Mord beiseite gewischt wurde. Dabei sollte es im Bezirk Marzahn-Hellersdorf eine Sensibilität bei einem solchen Vorkommnis geben. Im März 1992 war Nguyen Van Tu vor einer Kaufhalle in Marzahn erstochen worden, im Januar 1999 war ein Vietnamese von vier Neonazis durch eine Hellersdorfer Kaufhalle gejagt und mit einem Messerstich in die Lunge lebensgefährlich verletzt worden. Unverständnis darüber bezeugen auch die Initiatoren des vier Tage später stattfindenden Gedenkens in ihrem Redebeitrag:

Wir wollen heute dem am vergangenen Mittwoch ermordeten Zigarettenhändler gedenken. Wir möchten unsere Anteilnahme und Solidarität mit seinen Hinterbliebenen und Freunden, insbesondere seiner Lebensgefährtin, die ein Kind erwartet, zum Ausdruck bringen.

Bisher gibt es keine eindeutige, zusammenhängende Schilderung dessen was sich vor dem Supermarkt in der Marchwitza Straße ereignet hat. Sicher ist jedoch, daß im Laufe einer Auseinandersetzung der deutsche Angreifer die Polizei anrief, für die er einen „vietnamesischen Zigarettenhändler“ festhalte. Nach einigen Berichten stellte er sinngemäß gegenüber der Polizei die Frage, ob sich nun diese oder er selbst um diesen kümmern solle. Als ein Streifenwagen vor Ort eintraf, lag das Opfer nach einem Messerstich in die Brust bereits am Boden, der Täter war in seine Wohnung geflüchtet. Wenige Stunden später erlag der Angegriffene seinen Verletzungen.

Doch wollen wir an dieser Stelle auch deutlich machen, daß wir die Entpolitisierung des Geschehenen durch Polizei und Medien für einen Skandal halten.

Sicher hat die psychische Konstitution des Täters eine entscheidende Rolle gespielt, doch das kann bei jedem, der den Tod eines anderen billigend in Kauf nimmt, vorausgesetzt werden. Daß Menschen milieubedingt verschieden zu Gewalt neigen ist ein Allgemeinplatz, und wird von der öffentlichen Meinung gerne als ausreichende Erklärung angenommen. Warum es ausgerechnet einen „Fremden“ traf, wird jedoch nicht erklärt. Der Täter hatte Bekannten zuvor mehrfach angekündigt „selbst etwas“ gegen „diese Fidschis (...) zu unternehmen, wenn die Behörden schon nichts tun“. „Fidschis“ als Begriff für hier lebende Menschen aus Südostasien ist so üblich wie es verachtend und ausgrenzend gemeint ist. Menschen als Fremde zu verstehen, ist gängige gesellschaftliche Praxis zur Distinktion des eigenen Kollektivs. Immer wieder verbal vorgetragen, bei Kaffeekränzchen oder im Büro, werden Ressentiments aufrecht erhalten und sich versichert, daß insbesondere diese „Fremden“ sich an die geltenden Regeln zu halten haben und eigentlich auch gar nicht hierher gehören. Praktiziert wird dies etwa, wenn beim günstigen Zigarettenkauf mit dem Händler in einer Art Kindersprache kommuniziert wird. Im schlimmsten Fall kommt es zum Mord.

Das Festhalten und Denunzieren eines illegalen Straßenhändlers, das Ausliefernwollen eines gesellschaftlich abseits Stehenden, nahezu Rechtlosen verdeutlicht in seiner Empathielosigkeit gegenüber dem Individuum die zugrundeliegende, gruppenbezogene Sicht des Täters.

Auch setzt der Vorfall eine Reihe von Angriffen im Bezirk in diesem Jahr fort. Im Februar waren zwei vietnamesische Frauen und ein Kind in Marzahn-Nord von Neonazis angegriffen worden. Im Mai traf es eine Blumenhändlerin in Kaulsdorf-Nord, der neben der Prügel noch vorgehalten wurde, daß sie sich doch gefälligst zu benehmen haben wie die Deutschen dies wünschen. Es mag sich dabei um Einzeltäter handeln – glücklicherweise mobilisiert sich der Mob nur selten –, doch kommen diese auch aus der Mitte der Gesellschaft.

Dabei bedarf es nicht einmal einer öffentlichen Stimmungsmache. Die Angreifer handeln aus ihren alltäglichen Vorstellungen heraus. Insofern ist der Mord für uns nicht einmal ein überraschendes – wenn doch erschreckendes – Ereignis. Mit rassistischen Angriffen ist hier in Marzahn, hier in Deutschland jederzeit zu rechnen. Daß selbst rassistische Morde immer wieder herunter gespielt werden und nach verharmlosenden Erklärungen gesucht wird, ist schlicht unerträglich.

Neben der hiesigen traditions- und exzessreichen rassistischen Ideologie ist es auch die Ausländergesetzgebung, die die Trennung in Deutsche und Fremde festschreibt. Menschen, die als politische Flüchtlinge oder auf der Suche nach dem persönlichen Glück, in reiche Länder wie dieses flüchten, wird ein dauerhafter, legaler Aufenthalt und ein rechtmäßiger Lohnerwerb in der Regel nicht ermöglicht. Ohne jede soziale und ökonomische Absicherung und Rechte leben sie ständig bedroht von Abschiebung. Die daraus resultierende preiswerte Arbeitskraft von Flüchtlingen stellt einen bedeutenden Faktor für einige Wirtschaftszweige dar. In der Wahrnehmung der so profitierenden deutschen Mehrheit haben diese Menschen aber keinen Platz oder werden als fremde Bedrohung und Konkurrenz wahrgenommen. Die Rechtlosigkeit, die ihnen der Staat gewährt, stigmatisiert sie zu Freiwild.

Wir erinnern an dieser Stelle auch an Nguyen Van Tu, der 1992 am Brodowiner Ring von einem Neonazi ermordet wurde als er seinen Freunden zur Hilfe kam, die angegriffen wurden. Auch sie waren Straßenhändler, Van Tus Aufenthaltsgenehmigung wäre wenige Monate später abgelaufen. Zu dieser Zeit waren rassistische Angriffe sprichwörtlich alltäglich in Deutschland, wurden in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu Pogromen. In den meinungsbildenden Medien gehörte es zum guten Ton gegen die „Asylschwemme“ zu hetzen. 1993 wurde mit der Neufassung - oder vielmehr faktischen Abschaffung - des Asylrechts dem Wahlvolk signalisiert, daß die rassistische Praxis Erfolg hat. Die Opfer wurden als Problem benannt, nicht der Rassismus und Nationalismus.

Wir weisen die Entpolitisierung, das Unter-den-Tisch-kehren der ideologischen Motivation des Mordes zurück.

Wir fordern eine dauerhafte Aufenthaltsmöglichkeit der Freundin und des Kindes des Ermordeten in Deutschland.

Wir fordern die Anerkennung der vollen Bürgerrechte für alle in diesem Staat lebenden Menschen.

Darüber hinaus bedarf die solidarische Assoziation freier Individuen jedoch einer Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, von Staat und kapitalistischer Vergesellschaftung, welche eben auch Distinktionsmechanismen wie Rassismus permanent produzieren.

Quelle(n): 
Augenzeug_innenberichte
Berliner Morgenpost online am 6.8.2008
Berlin Online am 6.8.2008
Berliner Kurier vom 7.8.2008
Pressemitteilung der Berliner Polzei vom 10.10.2008
Jungle World #33/2008
Antifaschistisches Infoblatt #47
und andere